Hier liest einer - Kulturchrist und »Gast in der deutschen Sprache« (Franz Kafka) - die biblischen Szenen neu, fasziniert und entsetzt von den Lücken im alten Text. Er sieht ein prächtiges Chaos in lutherscher Diktion, in dem Widersprüche wie Wunden klaffen. Er will nicht dagegen, er muß dareinschreiben und die Überlieferung unterwandern.
Jean-Paul Barbe nimmt sich der »Übergangenen« an, der flüchtig erwähnten oder namenlosen Frauen im Alten Testament. Er spinnt ihre verschwiegnen Geschichten fort, rein und unrein nicht trennend. In den Unzulänglichkeiten und Misstönen will seine Kontrafaktur eine Gedankenwelt entdecken, eine unerkannte Dimension der Erfahrung.
-- Volker Braun
Diese Bibel-Geschichten sind eine Fortschreibung einiger Textstellen aus dem Alten Testament, die sich auf weniger bekannte und dort flüchtig erwähnte Frauenfiguren, individuelle wie kollektive, beziehen. Ein genauer Bezug zum Original wird in den meisten Fällen verdeutlicht. Die Sprache lehnt sich bewusst an den lutherschen Duktus.
Der Text richtet sich sowohl an den Bibelkenner, der angeregt wird, sich mit einigen unerkannten Dimensionen der Vorlage auseinanderzusetzen, als auch an das breitere Publikum der nicht Bibelfesten, das vielleicht herausgefordert wird, sich an den Originaltext zu wagen und in dessen Unstimmigkeiten und Misstönen eine neue, komplexere Gedankenwelt entdeckt.
Mit der Veröffentlichung des Widerrede der übergangenen Frauen will Jean-Paul Barbe, in den einsetzenden Strom der oft recht affirmativen Jubiläums-Publikationen zum Luther-Jahr hinein, einen Beitrag liefern zu einer breiten Laien-Diskussion, auch unter so genannten Kulturchristen, zu denen er sich zählt. Der Unheilige Schrieb ist eine Kontrafaktur; sie will dazu provozieren, zurückzugreifen auf das Original mit seinen vehementen Widersprüchen. Fernerhin ist es ihm, aus der ungewöhnlichen Warte eines Auslandsgermanisten, um einen freien, aber letztlich liebevollen Umgang mit der lutherschen Sprache zu tun: ihr die Gewalt nehmen und gleichzeitig zu ihrer Kraft stehen und aus ihr schöpfen.
Jean-Paul Barbe, Jahrgang 1939, war als Germanist und Kulturwissenschaftler an französischen Universitäten tätig. Im heimatlichen Nantes gründete und leitete er das Centre Culturel Franco-Allemand, das später zum Centre Culturel Européen ausgebaut wurde. Er übersetzte aus dem Deutschen (Fritz Rudolf Fries, Christoph Peters, Sarah Kirsch, Volker Braun und andere) und erhielt den Übersetzerpreis Gérard de Nerval sowie (zusammen mit Alain Lance) den Max-Jacob-Preis für die Übersetzung ausländischer Lyrik.
Als Autor veröffentlichte er im französischen Verlag Joca Seria drei Romane: Villa Ker Enfance, Nantes 2002 (ausgezeichnet mit dem Prix de l´Académie de Bretagne), Admiraal Tromp, Nantes 2003 und Port-Ponant, Nantes 2005. Er schreibt auch Reisebilder: L´Europe buissonnière (Editions Siloé, Nantes 2005) und Essays, wie Le Dict des Lieux (Editions A la criée, Nantes 2008). Von ihm erschien auch 2016 als Bild- und Textband über Streifzüge durch die Auvergne: Le Cantal vagabond (Editions de la Flandonnière, Lascelles 2016). Nach Events in Kuhschnappel (Projekte-Verlag Cornelius, Halle an der Saale 2012), ist Ein Unheiliger Schrieb sein zweites, original deutsch verfasstes Werk. Jean-Paul Barbe lebt in Nantes und Berlin.