Excerpt from Sozialistische Monatshefte, Vol. 2: Juli bis Dezember, 1907

Vorab ist es ein schwerer Irrtum, zu glauben, der \vahlerfolg der österreichi schen Sozialdemokratie sei ausschliesslich oder auch nur vornehmlich dem hohen Ansehen zu danken, das die. Siegerin im W ahlrechtskampfe erworben hat. Wäre dem so, dann müsste die Partei bei diesen Wahlen grössere Massen aus den mittleren Schichten mitgerissen haben, als jemals, es gilt aber, wenig stens für Wien und die Alpenländer, eher das Gegenteil. In der funften Kurie stimmten in Wien, in einem Teile von Niederösterreich und auch sonst vielfach die Juden durchwegs, die christlichen Liberalen und Nationalen zum Teile mit der Sozialdemokratie. Christlichsoziale und Sozialdemokraten standen einander in diesen Gebieten bei der Grösse der Wahlkreise als die einzig in Betracht kommenden Nebenbuhler gegenüber, und die bürgerlichen Widersacher der Klerikalen mussten das ungewisse Glück der allgemeinen Kurie nicht versuchen, da sie gewisseren Besitz in den privilegierten Kurien erlangen konnten. Uber haupt hatten weder in den klerikalen Kronländern, noch in dem deutschen Teil der Sudetenländer die bürgerlichen Parteien in der Zeit des alten Wahlrechts gegen uns um ihr Dasein zu kämpfen. Die Wahlen in der fünften Kurie, die bloss ein Sechstel der Mandate zu vergeben hatte, bedeuteten für die bürger lichen Parteien abgesehen von dem Mandatsinteresse einzelner vornehm lich eine Demonstration: man wollte beweisen, dass doch nicht allerwärts die Massen hinter der Sozialdemokratie stehen, war aber an anderen Orten wieder bereit, zu erklären, dass die fünfte Kurie den Arbeitern gehöre. Diesmal mussten die bürgerlichen Parteien mit der Sozialdemokratie auf dem selben Boden um ihre Existenz kämpfen, sie hatten uns nichts mehr zu gönnen und zu gewähren. Deshalb schwenkten in Wien allein an die 30000 bürgerliche Wähler von der Sozialdemokratie ab. Ist diese nun dennoch von 100000 auf 126000 Stimmen gewachsen, so hat neben der Wahlpflicht die Ausbreitung der sozialdemokratischen Propaganda und Agitation auf die proletaroiden Schichten hierzu das wesentliche getan. Da aber die Christlichsozialen gleichfalls von r06000 auf 1 56000 Stimmen emporgeschossen sind, so verfügten auch sie noch über reiche Reserven und Moglichkeiten des Wachstums. Die Mannigfaltig keit des modernen Gesellschaftsbaus, die Vielseitigkeit seiner Gliederungen und das Schwankende des politischen Ausdrucks dieser sozialen Gestaltungen lässt sich nicht so leicht in eine Formel fassen.

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