Excerpt from Der Mensch auf der Bühne, Vol. 3: Eine Dramaturgie für Schauspieler; Gegenwart

Illusion gebraucht, aber nie war mit dieser Illusion, die von den Geschöpfen der Bühne auf uns übergehen soll, eine Optische Täuschung gemeint, die uns jene Wesen als im groben Sinne reale, praktisch lebendige erscheinen Hesse. Im Gegenteil würde das Zustandekommen solcher Illu sionen in jedem Augenblicke den Kunstgenuss aufheben und uns mit ganz praktischen Anteil, Freude oder Schrecken erfüllen. Die künstlerische Illusion aber versetzt uns nicht in eine wirkliche, sondern in eine andere besondere Welt, wo wir ohne alle praktisch personlichen Bedenken, Anteil nehmen, Anteil gleichsam an dem Lebensprozess an sich, an der Kraft und Schönheit der Welt, die hier reiner als in der Brechung des Alltagslebens auf uns wirken soll. Diese Illusion kommt nun dadurch zustande, dass den Dich ter eine Leidenschaft beseelt und antreibt, und diese Leiden schaft ist es, die fähig macht, statt einer Nachahmung der Natur eine Auswahl von Naturmomenten zu geben, in denen sich die Kraft und Schönheit des Lebendigen am sichtlichsten offenbart. Von der Stärke und dem Umfang dieser Leidenschaft hangt die Grösse und die Kraft der künstlerischen Wirkung ab. Die höchste und mächtigste Leidenschaft, die wir Menschen kennen, jene Leidenschaft, die um ein Erfassen und Begreifen der ganzen Welt, des ganzen Zusammenhangs zwischen Mensch und Schicksal, die um das Göttliche ringt, diese Leidenschaft heisst uns die religiöse. Und ich konnte zu Ihnen sagen, dass uns jede dramatische Dichtung, in dem Grade suggestiv und innerlich wertvoll wird, in dem religiöse Leidenschaft in ihr mächtig gewesen ist.

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